Dem Komponisten Giselher Klebe zum 80. Geburtstag

(nmz) – Das mittlerweile nahezu 150 Werke umfassende kompositorische Œuvre Giselher Klebes nimmt in seiner bemerkenswerten schöpferischen Vielfalt wie auch in seiner kompromisslos radikalen, keiner modischen Strömung und Attitude verpflichteten Eigenständigkeit eine außergewöhnliche Stellung in der Musikgeschichte nach 1945 ein. Klebes biografisch-politisch und ethisch-sittlich begründeter Entwicklungsprozess förderte geradezu zwangsläufig eine heute rar gewordene Trias geistiger Haltungen, welche sich allen Menschen in seinem Lebensumfeld, insbesondere aber seinen Studenten im Zuge der Erörterung fundamentaler kompositionstechnischer und ästhetischer Fragen deutlich mitteilt: unbedingte Integrität, menschliche Souveränität und unverbrüchliche Treue zu sich selbst.

Bereits im Vorschulalter erfuhr Klebe durch seine Mutter intensive ganzheitliche musische Prägung und Förderung, welche sich über die reine Unterweisung im Instrumentalspiel hinaus auf die Entwicklung eigener kleiner Kompositionen, aber auch auf eine früh zu Tage tretende zeichnerische Begabung erstreckte. Dieses schöpferische Spiel in der eigenen Vorstellungswelt war für Klebe der innere Fluchtpunkt vor der Unstetigkeit seiner äußeren Lebensbedingungen, welche durch einige rasch aufeinander folgende Ortswechsel (von Mannheim über Rostock nach Berlin), insbesondere aber auch durch die Trennung seiner Eltern gekennzeichnet waren. Bereits im Alter von 13 Jahren stand für Klebe, der zu diesem Zeitpunkt Skizzen erster kleiner Kompositionen anfertigte, der Entschluss fest, möglichst bald ein Musikstudium aufzunehmen. Ab 1940 begann er seine musikalische Ausbildung am Städtischen Konservatorium Berlin in den Fächern Violine, Viola und Komposition. Durch den politischen Wagemut seiner Musikgeschichtsdozenten Hans Boettcher und Hermann Halbig ergab sich für den jungen Studierenden die einmalige Gelegenheit, die zu dieser Zeit als „entartet“ geltenden Werke Schönbergs, Hindemiths und Strawinskys kennen zu lernen. Klebes ethisch-religiöse und politische Grundeinstellung förderte seine Immunität gegen die nationalsozialistischen Verführer und ließ ihn mit Abscheu die Untaten der Schergen des Regimes erleben, wobei die Zerstörung der Synagoge in der Fasanenstraße zu einem Schlüsselerlebnis wurde.

Durch die Bekanntschaft mit dem kommunistischen Maler Fritz Ohse, der von der Klavierlehrerin Klebes in einer Dachkammer versteckt wurde, nahm der Jugendliche aus eigener Erfahrung Anteil an Leid und Elend der Verfolgten und Verlorenen. Fritz Ohse führte Klebe in die revolutionäre Ästhetik der damals verbotenen Maler ein, darunter auch Paul Klee, dessen diaphane Bildwelt eine besondere „Faszination optischen Erlebens“ auf den jungen Menschen ausübte. Von der Nachhaltigkeit dieser frühen Eindrücke zeugt Klebes 1950 in Donaueschingen uraufgeführtes Werk „Die Zwitschermaschine“, Metamorphose über das gleichnamige Bild von Paul Klee für großes Orchester op. 7.

Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft nahm Klebe sein Musikstudium wieder auf und belegte am Internationalen Musikinstitut in Berlin-Zehlendorf das Fach Komposition bei Josef Rufer. Die wichtigsten gestalterischen und formalstrukturellen Anregungen verdankt Klebe einem komprimierten Privatstudium bei Boris Blacher, dem er sich bis zu dessen Tode in tiefer Freundschaft verbunden fühlte. Im Jahre 1957 wurde Klebe zum Nachfolger Wolfgang Fortners an die Nordwestdeutsche Musikakademie berufen; 1962 erhielt er durch seine Ernennung zum ordentlichen Professor für die Fächer Komposition und Musiktheorie jene wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, welche ihm die Möglichkeiten eröffneten, sich ohne ökonomische Zwänge seiner kompositorischen Tätigkeit zu widmen.

Tiefe Einsichten

Klebes kompositorische Entwicklung vollzog sich in den 50er-Jahren unter dem Aspekt einer tiefen Einsicht in die Universalität der Möglichkeiten dodekaphoner Strukturen, welche er mit Blachers Technik der variablen Metren kombinierte. Zeitgleich beschäftigte er sich intensiv mit dem Opernschaffen Giuseppe Verdis, dessen Einfluss das Gesamtwerk Klebes über Jahrzehnte hinweg in formal-struktureller, materieller (etwa als unerschöpflicher Zitatfundus), subjektiv-psychologischer und expressiver Hinsicht (im Sinne eines polaren Spannungsverhältnisses von dramatischer Expression und lyrischer Verinnerlichung) nachhaltig prägte. Zudem liegt Klebes „Streben nach Klarheit und Einfachheit“ des Ausdrucks bei allerdings äußerster struktureller Komplexität in seiner starken Affinität zum Werke Verdis begründet.

Klebes integrale ästhetische Konzeption entwickelte sich auf der Basis seiner kritischen Betrachtungen zu „einer immer stärker auf die Horizontale konzentrierten dodekaphonen Kompositionstechnik“, deren Schwerpunkte er auf die Vertikalität des musikalischen Satzes zu verlagern trachtete. Zudem ermöglichen ihm umfangreiche permutative Prozesse im Ablauf der Reihengestalten äußerst variable Klangkonstellationen für eine auffallend bruchlose Integration dreidimensional-tonaler Strukturen in vierdimensional-atonale Kontexte. Dieses allgegenwärtige Merkmal Klebescher Kompositionstechnik erscheint eng verwoben mit einem speziellen integralen Zitatverfahren, das vorzugsweise tonalitätsgebundene musikalische Vorlagen unterschiedlichster historischer und stilistischer Provenienz nahtlos in einen dodekaphon-atonalen Kontext einbindet. Diese eher im Material verhaftet erscheinenden Erkenntnisse spiegeln die philosophisch-ästhetische Konzeption Klebes allerdings auf eindrucksvolle Weise wider: das Zeitintegral dreier, eng miteinander verwobener Zeitformen, womit Klebe zu einem besonderen Verhältnis zum Zeitphänomen gelangt, das Zeit als Intensität und Qualität versteht, die beinahe alle bisherigen Zeitformen umfasst.

Neben sieben Sinfonien, zahlreichen Orchesterwerken, fünfzehn Solokonzerten, fünf Balletten, einer wahren Fülle kammermusikalischer Kompositionen unterschiedlichster Besetzungen, einem umfangreichen Klavierwerk sowie einigen bedeutenden geistlichen Kompositionen (darunter ein Weihnachtsoratorium) verdient insbesondere das mittlerweile dreizehn Werke umfassende, Geist und Struktur der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts neu belebende Opernschaffen Klebes besondere Beachtung. Dieses hochkomplexe Œuvre erscheint ausschließlich dem Genre der Literaturoper verpflichtet, wobei die jeweils ganz individuelle dramatische Kraft und Musikalität der Sprache Shakespeares, Goethes, Schillers, Kleists, Balzacs, Horváths, Zuckmayers, Werfels, Sostshenkos und Synges ihre adäquate Widerspiegelung in einer subtil abgestimmten, klangkoloristisch inspirierten, in die Schichten des Nicht-Mehr-Sagbaren hinabreichenden instrumentatorischen Konzeption findet. So gelangt in Klebes sechster Oper „Jacobowsky und der Oberst“ (nach dem gleichnamigen Theaterstück von Franz Werfel) ein aktweise höchst unterschiedlich besetztes, in verschiedenen Funktionen zum Hauptorchester hinzutretendes „Orchester hinter der Szene“ zur psychologischen Ausdeutung dramatisch bedeutsamer Situationen zum Einsatz; in der Oper „Das Mädchen aus Domremy“ op. 72 reduziert Klebe das Instrumentarium auf eine Klangkonstellation von vier Klavieren, Cembalo, Harfe sowie große Schlagzeugbesetzung und kombiniert diesen spezifischen Instrumentalklang mit Tonbandeinspielungen, welche über Lautsprecher den Schlachtenlärm moderner Kriegsführung in den Raum projizieren.

Klebes Opernästhetik zeichnet sich insgesamt durch Integration charakteristischer, geschlossener, dreidi-mensionaler Strukturen wie Arien, Duette, Chorszenen, große Ensembles, Schlusstableaus in seine überwiegend vierdimensional-dodekaphone Klangsprache aus. Unter formalstrukturellen Aspekten vollzieht Klebe eine besondere Synthese nummernopernhafter und musikdramatischer Vorstellungen, wobei im allgemeinen Elemente der Durchkomposition das Gerüst der Nummernoper auf höchst unterschiedliche Weise durchströmen. Klebes Überlegungen zur Textverständlichkeit führten zwangsläufig zur Präferenz eines an Monteverdi geschulten, der Prosodie Janáceks so-
wie dem Mozartischen Parlando-Stil verpflichteten syllabisch-deklamatorischen Gesangsstiles, wobei, durchaus in Gegenposition zur Wagnerschen Deklamatorik, die Gesangsstimme den Primat über das Orchestergeschehen besitzt.

Überzeitliche Gültigkeit

Klebes erfolgreichste Oper „Jacobowsky und der Oberst“ leistet in ihrer überzeitlichen Gültigkeit angesichts wiedererstarkender, verhängnisvoller nazistischer Tendenzen einen eminent wichtigen Beitrag zur „Erziehung nach Auschwitz“: die Idee der Versöhnung von Christen- und Judentum vor dem Hintergrund der Vernichtungstotale des Zweiten Weltkrieges, dargestellt in der Konstellation der Gestalten des Ewigen Juden und des Heiligen Franziskus auf der Ebene überzeitlicher Bedeutung und in der Beziehung des katholischen polnischen Obersten Stjerbinsky zu dem Juden Jacobowsky auf der Ebene dramatischer Aktualität. Die konfliktreiche Zwangsgemeinschaft der beiden Protagonisten Jacobowsky und Stjerbinsky, beide aus guten Gründen auf der Flucht vor den zügig auf französischem Territorium vormarschierenden deutschen Truppen, wandelt sich nach fundamentalen inneren und äußeren Krisen in eine von Hochachtung und tiefer Menschlichkeit getragene Freundschaft, welche letztendlich das Überleben beider sichert. In diesem Kontext wirkt Marianne, die Geliebte des Obersten, zunächst Konflikt verschärfend, am Ende jedoch erscheint sie als Mediatrix, als Göttliche Mittlerin, die alle Konflikte in sich vereinigt und in sich aufhebt. Im polaren Spannungsfeld dramatischer Expression und lyrischer Introversion entwickelt Klebe einen kompositorischen Plan, welcher die Aufteilung des Handlungsgeschehens in vier ineinander übergehende Akte mit insgesamt 31 von musikdramatischen Vorstellungen perfundierten Nummern höchst unterschiedlicher und abwechslungsreicher Gestaltung vorsieht.

Die komplexe leitmotivische Konzeption der Oper basiert auf einem differenzierten, die dramatis personae, ihre psychischen Befindlichkeiten, bestimmte Situationen und Zustände sowie Beziehungskonstellationen charakterisierenden Reihenplan. Auf der Ebene der Hör- und Nachvollziehbarkeit werden durch Reihenpermutationen einige kennzeichnende, den gesamten musikalischen Satz durchströmende „leitmotivische Figuren“ zur Personen- und Situationscharakterisierung gewonnen. Zum dritten symbolisiert eine ebenfalls dem Reihenplan immanente g-Moll-Melodie als „Leitmelodie“ in höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen das dramatisch bedeutsame Lebensmotto des Protagonisten Jacobowsky, welches ihm immer wieder die „Wahl zwischen zwei Möglichkeiten“ eröffnet, letztendlich jedoch durch unaufhaltsamen Ablauf der Ereignisse ad absurdum geführt wird.

Klebes Werk steht in fortwährendem polaren Spannungsverhältnis von dramatischer Ausdruckskraft und lyrischer Innerlichkeit, wobei der Aspekt des Expressiv-Dramatischen eindeutig überwiegt. Nach dem Tode seiner Frau Lore, Gefährtin über viele Jahrzehnte und Librettistin der meisten Opern Klebes, durchwirkt ein eher düster-dramatischer Tenor das sinfonische Altersopus des Komponisten. Insgesamt erscheint kaum ein Werk auf den ersten Blick mit dem anderen vergleichbar, ist es doch in formalstruktureller, instrumentatorischer und affektiver Weise ein Unikat und bis auf sehr wenige Ausnahmen dem Komponisten nahe stehenden Menschen in ganz persönlich geprägten Lebenssituationen gewidmet, wodurch ein jedes bereits seine Besonderheit in sich trägt. Diese Disparität des Gesamtœuvres wird jedoch in Klebes spezifischer übergeordneter integraler Kompositionstechnik geeint, sodass tiefste Verschiedenheit und tiefste Zusammengehörigkeit ineinsfließen.

Brigitte Schäfer

Ausgabe:

NMZ 9/2005 – 54. Jahrgang

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