Brigitte Schäfer: Die Oper „Jacobowsky und der Oberst“ von Giselher Klebe nach einem Bühnenstück von Franz Werfel. Analytische Betrachtungen, Verlag Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2000

Brigitte Schäfer: Die Oper „Jacobowsky und der Oberst“ von Giselher Klebe nach einem Bühnenstück von Franz Werfel. Analytische Betrachtungen, Verlag Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2000 Die musikwissenschaftliche Literatur ist nicht gerade reich an Opern-Monografien, schon gar nicht, wenn es um Werke nach 1945 geht. Die Komponistin und Musikwissenschaftlerin Brigitte Schäfer hat jetzt eine Dissertation vorgelegt, die auf diesem Feld Beachtung finden sollte, weil sie zum einen den manchmal angezweifelten Sinn von musikalischen Strukturanalysen verdeutlicht und zum anderen die operndramatischen Möglichkeiten der Dodekaphonie nach Alban Berg und Arnold Schönberg plastisch vor Augen führt.
Der Untersuchung zu Grunde liegt die Oper „Jacobowsky und der Oberst“ von Giselher K1ebe nach einem Bühnenstück von Franz Werfel. Es handelt sich bei diesem Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper aus der Ära Rolf Liebermanns, das für eine Darmstädter Aufführung leicht überarbeitet wurde, um eine Literaturoper, in der, verkürzt gesagt, Judentum und Christentum in den Problemfeldern von Nazi-Regime und Zweitem Weltkrieg miteinander konfrontiert werden.

Mit ihrem Buch schuf Brigitte Schäfer mehr als eine Hommage an ihren Kompositionslehrer Giselher Klebe. Ihre fundierte Kenntnis der Kompositionstechnik und der ästhetischen Ziele Klebes wirken sich äußerst positiv auf die Erschließung und Durchleuchtung ihres Untersuchungsgegenstandes aus. Geradezu bewundernswert ist die wissenschaftliche Akribie, das philosophische und psychologische Hintergrundwissen und die Sensibilität fürs Detail, mit der Brigitte Schäfer ihre Analysen und Auswertungen betreibt.

So scheut die Autorin nicht vor mikroskopischer Feinanalyse zurück und dringt in die Tiefenschichten der Partitur ein. Ihre Erforschung zeitigt damit beeindruckende Ergebnisse in Bezug auf Analogien von Musik und Handlung, die sich freilich nicht in platten Inhaltszuordnungen erschöpfen. Stattdessen werden komplexe strukturelle Verknüpfungen und eine atemberaubende Vielschichtigkeit der Deutungsmöglichkeiten aufgedeckt.

Alle Charakter-, Handlungs- und Musikanalysen werden auf den Kernbegriff der „Polarität“ bezogen und auf die durch sie entstehenden Spannungsfelder. Musikalisch entfaltet sich die „Komödie einer Tragödie“ (Werfel) mit einem halboffenen, quasi auf Hoffnung beruhenden Schluss, in strenger Durcharbeitung.

Zentrales Kapitel ihres Buches ist das Vierte: „Die Besonderheiten der Leitmotivtechnik Klebes“. Hier öffnet Schäfer den Blick für den Kosmos eines schier unerschöpflichen Beziehungsgeflechts sowohl der Reihen untereinander als auch der Permutationsvarianten einer einzigen Reihe sowie der Reihen mit der g-Moll-„Leitmelodie“ (Klebe). Mindestens ebenso wichtig wie die Menge der Material-Varianten wird für das psychologische Moment der Musik die Anwendung von „leitmotivischen Figuren“, ein von der Autorin eingeführter Begriff, der die Verknüpfung der Reihentechnik mit bestimmten wiederkehrenden rhythmischen, akkordischen und diastematischen Phänomenen meint. Hier mag das Geheimnis verborgen liegen, wodurch die mathematisch-konstruktive Seite der Struktur ihren Ausdrucks- und Affektgehalt, aber auch ihre psychologische Tiefe erhält. Das Kalkulierte der Partitur ist kein Selbstzweck, sondern durch ästhetische Kriterien kontrolliert. Brigitte Schäfer weist nach, dass „die Reihengebilde sowie von der g-Moll-Melodie abgeleitete Erscheinungsformen in permanentem Einsatz stehen, wobei Klebe grundsätzlich nach streng selektiven Prinzipien verfährt“ (S. 234). Die Entscheidung über die jeweiligen selektiven Mittel „dient immer dem höheren Zweck der Ausdeutung und Vertiefung des jeweiligen Sinninhalts der Textvorlage wie auch der Herstellung übergreifender Bezüge und ahnungsvoll-hintergründiger Hinweise“ (ebd.).

In einem letzten Schritt der Untersuchung erfolgt die Zusammensetzung des Puzzles: Das Ergebnis der Mikroanalyse wird übertragen auf den großen Bogen, speziell auf die unterschiedlichen Aspekte der „Polarität“ in der Oper. Dies beginnt bei der Großanlage des Sujets’ das zwischen Komödie und Tragödie changiert, und setzt sich bis in die kleinsten Verästelungen der protagonistischen und musikalischen Beziehungen fort.

Der dramatische Kulminationspunkt am Schluss liegt in der Versöhnung, der die Gegensätze ohne Groll, in gegenseitigem Verständnis stehen lässt. Wenn am Schluss Marianne und der Oberst zugunsten Jacobowskys auf eine gemeinsame Flucht verzichten, so wird mitten in der Welt von Hass und Ichsucht eine Enklave der Gegensätze überwindenden Liebe erkennbar als Urquell eines wirklichen individuellen wie globalen Friedens – zweifellos ein Thema von permanenter Aktualität.

Ein Artikel von Klaus G. Werner

Ausgabe:

9/2002 – 51. Jahrgang